Das Gedankenkarusell – Drehst du dich noch im Kreis oder lebst du schon?

Ich wache auf. Ich weiß, dass es mitten in der Nacht ist. Uff. Ich sollte die Augen nicht aufmachen, weil ich weiß, dass es da ist. Und wenn ich es sehe, dann/

Bumm! Da steht es. Mitten in meinem Schlafzimmer. Es ist schön, es ist bunt, es sind niedliche Einhörner, auf denen man munter auf und ab reiten kann. Ach, es ist so einladend. Das Gedankenkarussell.

„Bitte einsteigen, gleich gehts los in eine neue Runde!“, ruft der Ansager vom Karussell, „Jippie! Einsteigen bitte!“. Ich zögere. „Na los“, ruft der Ansager begeistert, „Jippie, jippie, jippie!“, und die Einhörner klimpern herzallerliebst mit ihren Augen. „Ach, ich weiß nicht“, sage ich unsicher.  „Ich will nicht“, denke ich, „Ich will nicht“, sage ich, denn ich habe schlechte Erfahrungen gemacht, mit dem Gedankenkarussell. Mir ist danach immer ganz übel, und ich kann die restliche Nacht nicht mehr schlafen. Aber der Ansager beruhigt mich: „Keine Sorge,  du kannst ja nach einer Runde wieder aussteigen, falls es dir zu wild ist“.

Und dann kaufe ich mir ein Ticket. Der Preis pro Fahrt: Kontrollverlust. „Naja, ich fahre ja nur einmal“, beruhige ich mich, zahle und steige ein.

Langsam beginnen sich die niedlichen Einhörner zu drehen und sich sanft auf und ab zu bewegen, aus den Lautsprechern schallt fröhliche Musik, und der Ansager ruft begeistert: „Jippie, jippie, jippie“.  Ich ignoriere die aufziehenden dunklen Gewitterwolken, denn noch regnet es nicht, und so schließe ich entspannt die Augen.

„Jippie! Auf gehts in eine neue Runde im Gedankenkarussell!“

Nun fangen mit dem Karussell, auch meine Gedanken zu kreisen an, und ich denke an die Enttäuschung, die mir mein Partner vor kurzem zugefügt hatte. Der aufkommende Schmerz wird kunstvoll von hypothetischen Gedanken unterdrückt. Ich denke an das Gespräch, dass wir miteinander führen werden, und was ich möglicherweise sagen könnte, und was er mir möglicherweise antworten könnte, und wie ich dann reagieren würde. Krawumm!

In diesem Moment reißt mich ein heftiges Donnern aus meinen Gedanken. Das Karussell hat gestoppt. „Was? Schon fertig?“ frage ich. „Jippie“, sagt der Ansager, „du kannst ja noch einmal fahren“. Ich bezahle erneut Kontrollverlust – sag mal, stehen Schweif und Mähne der Einhörner in Flammen? Egal, ich habe keine Zeit, näher darauf einzugehen, denn „Jippie“ geht es in die nächste Runde.

Meine Gedanken drehen sich im Kreis, so wie das Karussell

Sofort drehen sich meine Gedanken weiter, wo sie aufgehört hatten. Die schwarzen Gewitterwolken des Himmels bohren sich in meinen Kopf, und ich beginne mir auszumalen, wie mir mein Partner Dinge sagt, die mich kränken, verletzen und noch mehr enttäuschen. Und ich stelle mir Fragen: Warum bloß hat er mich so enttäuscht? Wird er es wieder tun? Hat er verstanden, dass er mich verletzt hat? Liebt er mich überhaupt? Bevor ich Antworten auf meine Fragen erhalte, donnert es wieder, und das Karussell stoppt. Na, so kann ich doch nicht aussteigen! Das ist ja, wie einen Horrorfilm anzusehen und an der spannendsten Stelle abzudrehen. Hastig bezahle ich noch mehr Kontrollverlust. Ich brauche Erkenntnis!

Beim Bezahlen sehe ich, dass sich das Bild meines schönen, bunten Einhörner-Karussells drastisch verändert hat: Der nun einsetzende Regen peitscht wild aufs Dach, die Einhörner gleichen eher aggressiven Nashörnern als sanften Fabelwesen, und die Musik quietscht schrecklich und falsch. Wie gut, dass der ohrenbetäubende Donner die schiefen Töne überdeckt.

„Jippie! Super! Wohoo, noch eine Stufe schneller!“, ruft der Ansager, und die Nashörner galoppieren los. Ich muss mich festhalten, um nicht abgeworfen zu werden. Mein Herz klopft alarmierend schnell, als meine Gedanken zu wirbeln beginnen. Warum? Was, wenn er noch mehr Geheimnisse vor mir hat? Wird er auf seiner Entwicklungsstufe stehenbleiben oder weitergehen? Kann ich ihm jemals wieder vertrauen? Wieder und wieder tanzen die Gedanken wild durch meinen Kopf, ich zahle mehr und mehr Kontrollverlust in der Hoffnung, dass der Psychothriller meiner Hirngespinste mir endlich Klarheit und Erkenntnis verschafft und mich zur richtigen Entscheidung führen wird.

Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich auf den jagenden Nashörnern verbracht habe, aber Antworten auf meine Fragen habe ich nicht gefunden. Ich kann nicht mehr, der Regen hat mich durchweicht, so steige ich erschöpft und hilflos ab. Ich versuche zu schlafen. Aber das viele Drehen hat mich so schwindelig gemacht, dass ich es nicht vermag, Ordnung in mein Gedankenchaos zu bringen, und sie prasseln weiterhin unkontrolliert auf mich ein. So liege ich wach und wälze mich hin und her. Um fünf Uhr morgens halte ich es nicht mehr aus und stehe auf. Die Arbeit wird mich ablenken und für Struktur und Ordnung sorgen. Und ich werde nie wieder in dieses Scheißding einsteigen.

Als ich später, nun entspannt, eine Pause einlege, höre ich sanftes Glockenläuten und ein vertrautes „Jippie“. Die Nashörner sind wieder zu Einhörnern geworden, die mich ganz lieb anblinzeln, mit ihren langen Wimpern. Ich werde schwach. Vielleicht bringt eine Fahrt auf dem Gedankenkarussell jetzt mehr Klarheit? Und falls wieder ein Gewitter kommt, steige ich sofort aus!

Aber auch diesmal verliere ich die Kontrolle und jage verbittert auf den Nashörnern im Tornado der Gefühle, bis das Durcheinander so groß ich, dass ich schwindelig, abgekämpft und hohl aus dem Gedankenkarussell aussteige. Mein Kopf ist vollgefüllt von einem schwarzweißen Flimmern und dröhnendem Rauschen. Er fühlt sich hohl an, obwohl ein Übermaß an Gedanken darin herumschwirrt. Eigenartig, wie kann man sich denn so voll fühlen, dass man glaubt zu explodieren und gleichzeitig so unglaublich leer?

Und so drehe ich meine Runden. Tag für Tag, aber vor allem Nacht für Nacht. Und trotz all des Grübelns bin ich einer Antwort in meinem Suchen nicht näher gekommen.

Runde um Runde kreist das Gedankenkarussell. Jede Runde kostet Kontrollverlust. Mit jeder Runde füttert man die Nashörner mit der eigenen Energie. Jede Runde führt dich mehr ins Nichts.

Und dann bin ich abgestiegen und nicht wieder auf. Ich möchte mich nicht mehr kaputt denken. Reinheit, Vertrauen und Erkenntnis kann nicht aus dem Kopf kommen, sondern nur aus der Seele.

Es war schwer, dem „Jippie“ zu widerstehen. Es war noch schwerer, ihm zu widerstehen, ohne mich dabei abzulenken. Denn ohne Gedankenkarussell und ohne Ablenkung von Außen, kam der Schmerz von innen. Das tut so weh. Die Enttäuschung meines Partners hat alte, tief vergrabene Wunden aufplatzen lassen. Das tut so weh. Ich fühle mich so alleine, so verlassen, so hohl. Das tut so weh. Ich habe Angst, dass ich den Schmerz nicht ertragen kann.

„Oje, die Arme“, werden manche von euch denken, „Die Kiki, die steckt wohl in einer Depression“. Ja, die Tränen sind echt. Aber das Lächeln auch.

 

Ich weiß, wie sich eine Depression anfühlt. Dort war ich mal. Zu Beginn ist da dieser Schmerz. Man hört auf, Dinge zu tun, weil sie so nutzlos scheinen. Irgendwann transformiert sich der Schmerz in Verzweiflung und dann in diese entsetzliche Leere und Sinnlosigkeit. Man möchte einfach sterben. Und ich war damals einen Wimpernschlag davon entfernt, mein Leben für immer auszuhauchen.

Und heute? Ich habe geweint, als ich heute Morgen aufgewacht bin. Ich habe geweint, als ich mir die Zähne geputzt habe. Ich habe geweint, als ich mein Bett gemacht habe. Ich habe vor dem frühstücken geweint und danach. Ich fühle diese entsetzliche Leere, ich fühle mich hohl, ich fühle mich so hilflos, ich weiß nicht, wie es ertragen soll und auch nicht, wie es weitergehen soll.

Aber ich habe diese Energie und diese Lust zu leben. Ich kann die absolute Sinnhaftigkeit in allem spüren. Ich spüre, wie ich durch den Schmerz gerade neu geboren werde. Und das tut so weh, dass es mich fast zerquetscht. Wir wissen alle: Eine Geburt ist alles andere als einfach. Man wird durch einen viel zu engen Geburtskanal gepresst, man muss seinen vertrauten Ort verlassen und wird ins Unbekannte geschubst. Ich stecke mittendrin, in diesem Kanal, und es gibt kein zurück. Es gibt nur noch ein vorwärts. Ich weiß nicht, was mich am Ende des Tunnels erwartet, aber ich habe das Vertrauen mich fallen zu lassen. Aber ob mein Partner mutig genug ist, sich seinen Ängsten zu stellen und mit mir mitzukommen?

Ich habe heute all meinen Mut und Kraft genommen, um die kleine Kiki, das innere Kind in mir, die so leidet, die sich so hilflos und alleingelassen fühlt, so leer, anzunehmen. Sie einzuladen bei mir zu sein. Sie in die Arme zu schließen und ihre/meine Seele mit Liebe zu nähren.

Viele, die ich so kenne, versuchen ihre innere Leere verzweifelt mit Postings und Likes in Social Media zu füllen. Wenn sie sich einsam fühlen, posten sie ein neues Profilbild auf Facebook und bing……..bing………..bing…..bing…bing, bing, bing, bing klingeln Benachrichtigungen herein, dass ihnen ihre virtuellen Freunde Herzen, Likes oder gar ein „Wow, du schaust super aus“, gesendet haben. Fühlen sie sich noch immer nicht geliebt genug, schieben sie noch ein neues Hintergrundbild nach und versuchen, mehr virtuelle Freunde zu bekommen, indem sie anderer Leute Postings liken. Wie Süchtige verbringen sie mehr und mehr Zeit in dieser Fake World, was traurigerweise ihre Persönlichkeit verändert. Sie verbringen mehr und mehr Zeit Zuhause mit ihrem Handy, posten die Dinge, die sie gerne machen würden, anstatt sie zu machen. Sie verlieren mehr und mehr Energy und der einzige Körperteil, der noch regelmäßig trainiert wird ist ihr Daumen.

Mir tut so weh, geliebte Menschen an Social Media zu verlieren!

Wir alle müssen dringend lernen, uns diese Liebe, die wir suchen, uns selbst zu geben. Nicht der Partner, nicht der Sport, nicht das Essen, aber vor allem nicht Social Media kann die Leere unserer Seele füllen. Wir müssen uns selbst umarmen, uns selbst Liebe geben.

Das hat so gut getan, den Anfang zu machen, mich dieser Leere in mir hinzugeben und sie aus mir selbst heraus, mit Liebe zu füllen. Ja, es ist ein schmerzhafter Prozess und wird mich wohl noch ein paar Tränen kosten.  Und ich muss zugeben, mit einmal „Liebe geben“ ist auch meine Leere noch lange nicht gestillt. Und es wäre auch gelogen, wenn ich sagte, ich könnte dem sanft lockendem „Jippie“ immer widerstehen.

Aber ich übe, ich wachse, ich lebe.

 

2 Antworten auf „Das Gedankenkarusell – Drehst du dich noch im Kreis oder lebst du schon?“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*